Wir Kinder, vier Geschwister, waren bestürzt und voller Sorge. Zwar hatten wir durch die Briefe von Schwester Elisabeth bereits gewusst, dass es unserer Mutter nicht gut ging. Doch auf diese zusammengekrümmte Gestalt im Bett waren wir nicht gefasst.
Dennoch versuchten wir, uns zusammenzunehmen und einander nichts anmerken zu lassen. Wir packten mit Fröhlichkeit unsere Geschenke aus. Jeder legte sein Geschenk vor die Mutter auf das Bett. Ihre Hände glitten darüber hinweg wie die einer Blinden. Es war ihr völlig gleichgültig, was dort lag. Die kostbaren Mappen, der seidene Morgenmantel, das feine Wolltuch, der schöne Stoff für ein Kleid und die Bilder, die die Enkelkinder für ihre Großmutter gemalt hatten – sie schaute gleichgültig auf alles. Ihr Blick glitt in die Ferne, zu der wir keinen Zutritt hatten. Sie antwortete auch gar nicht auf unsere Fragen.
Wir sammelten die Geschenke wieder ein und legten sie unter den kleinen Weihnachtsbaum, der auf ihrer Kommode stand. Doch es war keine Weihnachtsfreude in diesem Raum.
Wir versuchten, mit Schwester Elisabeth zu sprechen. Sie war für uns die Vertraute unserer Mutter, doch sie war für zwei Stunden verhindert. Auch der Arzt war nicht zu sprechen. So mussten wir warten. Kaum einer sagte dem anderen etwas. Was kann man erwarten von alten Menschen in 80 Jahren? Das war unser Trost.
Dann fand einer von uns ein kleines Büchlein, in das unsere Mutter geschrieben hatte – ihr Leben im Altersheim. Wir lasen dieses Schreiben, während unsere Mutter lag und in die Ferne starrte.
Das Tagebuch unserer Mutter
Meine lieben Kinder,
ich weiß, ihr meint es nicht schlecht mit mir, als ihr mich hier ins Altersheim gebracht habt. Es ist ja auch ein schönes Heim. Die Schwestern sind alle gut und freundlich. Und ihr habt sicher eure Gründe gehabt, mich hierherzubringen.
Ich habe keinen Grund, mich zu beklagen. Ich weiß, ihr zahlt viel Geld für mich. Dafür muss ich dankbar sein. Aber ich kann es nicht verstehen, warum ihr mich nicht mehr braucht. Nach all dem, wie ihr früher ohne mich nicht fertig geworden wärt. Habe ich mir wohl so viel eingebildet?
Dabei habe ich doch immer noch helfen können. Kartoffeln schälen, noch viele kleine andere Dinge konnte ich tun. Die ich doch auch viel zu gern getan habe.
Warum wolltet ihr mich nicht mehr haben? Ich brauchte nur ein kleines Zimmer und konnte es noch selbst in Ordnung halten. Ich wollte doch gar nichts weiter, als an eurem und dem Leben eurer Enkelkinder teilzunehmen.
Jetzt aber muss ich abseits stehen, ja ganz ausgeschlossen, wie ein altes, unkrautbares Nebenstück. O wie unaussprechlich schwer ist es, in diesem Hause zu leben. Wie auf einer Insel der Toten.
Wir sind hier alle zu nichts mehr nützlich. Wir wissen es ja. Wir sind hier nur, um auf den Tod zu warten. Wir benehmen uns wie andere alte Leute. Aber doch ist ein großer Unterschied zwischen uns und denen, die wohl noch in den Familien leben können und mit ihren Kindern ihren Tag verbringen.
Damit ihr begreift, was es heißt, ausgeschlossen zu sein, bitte verzeiht mir das harte Wort. Ihr habt es vielleicht nicht so gemeint. Aber viele von uns, die früher Familien hatten, fühlen sich hier verlassen und ausgestoßen.
Mein Tag fängt um acht Uhr morgens an, aber um sechs Uhr bin ich schon wach. Da gibt es viel Zeit nachzudenken. Aber aufzustehen ist sinnlos, denn es erwartet uns keine Aufgabe mehr.
Wir stehen auf, waschen uns, frühstücken. Und wenn es schönes Wetter ist, gehen wir hinaus auf den Steinplatz ums Haus herum. Wir begegnen uns miteinander, aber bleiben fremd innerlich. Wir leben ohne Interesse.
So ist der tägliche Ablauf dieser in sich begrenzten Welt. Ich sitze viel an den Fenstern und blicke hinaus. So geht es weiter von Tag zu Tag: essen und schlafen.
Das alles ist eine schwere Verbindung mit dem Leben. Ich weiß, ihr denkt es nicht so, aber es ist die Wahrheit, meine lieben Kinder. Ich sage es nicht aus Bitterkeit, nein, aus meiner tiefen Traurigkeit.
Es fing ja schon lange an, dass geplant wurde, mich ins Altersheim abzuliefern. Schon oft fühlte ich mich nicht mehr nützlich. Ich war im Wege, dort ging meine Arbeit zu langsam. Ich störte, wenn Gäste da waren. Die Wahrheit wurde mir selten gesagt.
Besonders Gesellschaft hat man mir sehr ungern geleistet. Ich war nicht mehr nötig, in eurer Mitte zu bleiben. Ich weiß, ihr kommt auch jetzt nicht aus Verlangen und Freude zu mir, sondern nur noch aus Pflicht.
Ihr kommt ja auch auf den Gedanken, dass ich bei jedem drei Monate sein sollte. So dass ich viermal im Jahr mein Zuhause wechseln sollte. Aber dennoch habe ich euch geliebt und liebe euch mehr und mehr.
Gerne gäbe ich alles daran, um euch zu schützen und euer Leben zu verschönern.
Ich sitze hier in der Einsamkeit und warte. Vielleicht werdet ihr noch einmal erkennen, was ihr mir angetan habt. Oft ist mir das Herz am Brechen. Schwester Elisabeth sagt, das sei Altersschwäche. Vielleicht hat sie recht. Aber doch kann ich nicht von diesen Gedanken loskommen.
Immer denke ich, dass ich hier ausgestoßen bin auf eine Toteninsel.
Natürlich habe ich ein schönes Zimmer. Ich muss noch dankbar sein, dass ihr mich so gut untergebracht habt. Aber ich bin dennoch schon tot.
Ich möchte nicht mehr aufstehen. Ich bin so müde, habe keine Kraft mehr. Schwester Elisabeth sagt, das sei Altersschwäche. Sie hat recht.
Ich bekomme Spritzen, aber es wird nicht besser, immer schlechter.
Meine lieben Kinder, ihr schreibt, dass ihr mich am ersten Weihnachtstag besuchen wollt. Aber ich bin so müde, dass ich nicht weiß, ob ich mich freuen kann. Ich bin so weit weg von euch.
Ihr kommt aus einer Welt zu mir her, zu der ich nicht mehr gehöre. Ohne Freude, ohne Hoffnung, mit viel Trauer – das ist meine Welt.
Doch bald werde ich auch diese Welt verlassen.
Ende des Tagebuchs
Wir glauben, dass niemand sagen kann, was wir Kinder fühlen, nachdem wir dieses Tagebuch gelesen haben.
Die Freiheit kam zu spät.
Etwas Furchtbares ist geschehen: Unsere Mutter ist gestorben.
Altersschwäche, sagte der Arzt.
Aber wir wissen besser, was es war.
Das tiefe Herzleid hat dazu beigetragen. Dass sie uns für immer verlassen hat und nach einem Heim gegangen ist, wo sie getröstet wird für alle Ewigkeit.
Amen. 🙏🏿
