Am anderen Ufer des kleinen Flusses, der sich durch die Stadt schlängelte, stand ein Gemüsehändler. Er hatte gerade seine Waren für den Feierabend zusammengeräumt, als plötzlich drei kräftige junge Männer auftauchten. Ohne ein Wort zu verlieren, stürzten sie sich auf den Händler, rissen die Kasse an sich und traten wütend die Tische um. Tomaten rollten über das Pflaster, Äpfel platzten auf. Der Mann schrie auf – doch die Passanten blieben stehen, erstarrt, unfähig, etwas zu tun.
Peter sah das alles. Sein Herz schlug schneller. „Das kann doch nicht wahr sein“, murmelte er. Einer der Täter hatte einen auffälligen, großen, braunen Lockenkopf. Als die drei über die Brücke flohen, rief Peter: „Wartet hier! Ich hole sie!“ Seine Frau versuchte, ihn zurückzuhalten. „Peter, bleib hier! Das ist zu gefährlich!“ Doch in ihm war längst ein Entschluss gefallen.
Er rannte los, über die Brücke, der Adrenalinspiegel hoch, die Gedanken lautlos. Als er den Lockenkopf erreichte, packte er ihn am Haar, drückte ihn zu Boden und hielt ihn in einem Griff fest, den er irgendwann einmal im Fernsehen gesehen hatte. Der junge Mann schrie: „Au! Lass mich los!“ Doch Peter presste nur die Zähne zusammen. „Nein. Ich weiß, was du getan hast.“
Er zerrte ihn in die nächste Bäckerei. Die Leute schauten überrascht auf, als Peter rief: „Dieser Mann ist ein Straftäter! Ruft die Polizei!“ Doch niemand bewegte sich. Eine ältere Frau stand mit einer Brötchentüte in der Hand da, die Verkäuferin schwatzte weiter mit einem Kunden, als wäre nichts geschehen.
„Holen Sie die Polizei!“, rief Peter erneut, doch niemand reagierte.
In seiner Verzweiflung griff er nach einer großen Sahnetorte auf dem Tresen und schleuderte sie der Verkäuferin entgegen. „Holen Sie endlich die Polizei!“, brüllte er.
Die Frau stand da, völlig entsetzt, die Torte tropfte von ihrer Schürze. „Sind Sie verrückt geworden?“, rief sie.
„Ich halte diesen Mann fest, weil er gerade einen Händler überfallen hat!“, schrie Peter. „Er hat die Kasse gestohlen, die Stände zerstört – und keiner tut etwas!“
Die Leute starrten ihn an. Schweigen.
In diesem Moment trat ein junger Mann in die Bäckerei. Er hatte eine Tasse Kaffee in der Hand, trug einfache Kleidung und eine ruhige Ausstrahlung. Er sah die Szene – den festgehaltenen Täter, der unter Schmerzen wimmerte, und den wütenden Peter, der zitterte vor Zorn und Überforderung.
Der junge Mann stellte seine Tasse auf den Tresen und sagte leise, aber mit Nachdruck:
„Glaube an den Herrn Jesus Christus, und du wirst frei sein.“
Der Täter blickte auf. Etwas in diesem Satz traf ihn mitten ins Herz.
Er hatte in seinem Leben viele Menschen verletzt. Er war wütend auf die Welt, auf seinen Vater, der ihn als Kind geschlagen hatte, auf eine Gesellschaft, die ihn längst aufgegeben hatte. Aber jetzt – in diesem Moment – schien es, als würde das Licht durch einen winzigen Spalt seiner Seele brechen.
„Ich glaube“, sagte er mit schwacher Stimme. „Bitte, vergib mir. Ich war übermütig, ich… ich wollte stark wirken. Aber ich bin es nicht. Ich habe immer nur Menschen verletzt.“
Peter schüttelte den Kopf. „Ich glaube dir nicht. Du bist ein Verbrecher. Du musst bestraft werden.“
Doch der Mann mit dem Kaffee trat näher und sah Peter ruhig an.
„Peter, glaubst du an die Vergebung durch Jesus Christus?“
„Ich glaube an Gerechtigkeit“, antwortete Peter heftig. „Er hat beim Gemüsehändler alles zerstört. Das muss gesühnt werden!“
Der junge Mann nickte. „Diese Tat wurde gesühnt. Dafür ist Jesus Christus gestorben. Wir alle tragen Schuld. Wir alle haben Unrecht getan – manche mit der Faust, manche mit Worten, manche in Gedanken. Aber keiner kann sich selbst reinwaschen. Nur Vergebung kann das.“
Er erzählte von dem Mann am Kreuz – dem Verbrecher, der neben Jesus hing und kurz vor seinem Tod sagte: „Gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst.“ Und Jesus antwortete ihm: „Heute wirst du mit mir im Paradies sein.“
Peter schwieg. Er sah den jungen Dieb an, der weinte. Dann spürte er, wie die Wut aus seinem Körper wich, wie etwas anderes in ihm Platz nahm – ein Schmerz, aber auch Frieden.
„Ist er… ist Jesus auch für meine Schuld gestorben?“, fragte Peter leise.
„Ja“, sagte der junge Mann. „Auch für deine.“
In diesem Moment standen sie alle drei still. Keine Sirenen, kein Geschrei. Nur die Stille, durchbrochen vom Summen der Kühltresen. Peter ließ den Griff los. Der junge Täter fiel ihm um den Hals, weinte. Sie beteten zusammen – mitten in der Bäckerei, zwischen Sahnetorten und Brötchen.
„Danke, Jesus, dass du für unsere Schuld gestorben bist“, sagte der junge Mann mit dem Kaffee.
An diesem Freitagnachmittag geschah ein kleines Wunder.
Der junge Täter mit dem braunen Lockenkopf fand zum Glauben an Jesus Christus.
Und auch Peter – der eben noch dachte, Gerechtigkeit entstünde durch Strafe – begriff, dass wahre Gerechtigkeit nur durch Vergebung entsteht.
Als sie später zu seiner Familie zurückgingen, erzählte Peter alles. Seine Frau nahm ihn in den Arm.
Und während die Sonne unterging, war in dieser kleinen Stadt etwas geschehen, das keine Polizei und kein Gericht je hätte bewirken können: Ein Herz war neu geworden.
Amen.
Epilog
Vielleicht hast du dich beim Zuhören gefragt, was aus der Gerechtigkeit geworden ist. Ob der Gemüsehändler seine Kasse zurückbekam. Ob die Täter bestraft wurden. Ob am Ende alles wieder gut wurde. Doch die Geschichte lässt das offen – und genau das ist ihre Botschaft.
Denn sie ist kein Tatsachenbericht, sondern ein Traum. Ein Traum, der uns spüren lässt, wie sehr in uns der Wunsch nach Gerechtigkeit lebt. Wir alle tragen diesen Drang in uns – das Bedürfnis, Unrecht zu vergelten, Schuld zu bestrafen, Recht wiederherzustellen. Aber Gottes Gerechtigkeit funktioniert anders. Sie gründet sich nicht auf Strafe, sondern auf Vergebung.
Gott ist gerecht. Und gerade weil er gerecht ist, bietet er Vergebung an. Wir alle haben Schuld auf uns geladen – durch unsere Worte, Taten und Gedanken. Doch wenn wir unsere Sünden bekennen, ist Gott treu und gerecht und vergibt uns unsere Schuld. Vollständig. Ohne Rest.
Das „Gemüse unseres Alltags“, die kleinen Dinge, über die wir uns aufregen, um die wir streiten, mag wichtig erscheinen. Aber am Ende geht es um etwas Größeres: dass wir bereit sind, unsere Schuld einzugestehen und neu anzufangen.
Wir werden Menschen begegnen, die uns herausfordern, die uns verletzen oder provozieren. Doch gerade dann zeigt sich, ob wir wirklich verstanden haben, was Vergebung bedeutet.
So wie jener junge Mann in der Bäckerei seine Kaffeetasse beiseitestellte, um Gottes Wort zu sprechen, so sind auch wir aufgerufen, unsere Bequemlichkeit abzulegen und mutig vom Glauben zu zeugen.
Denn echte Gerechtigkeit entsteht nicht dort, wo Strafe vollzogen wird – sondern dort, wo Vergebung geschieht.
Und genau dort beginnt neues Leben.
