Kurzgeschichten
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Der König und der Narr

Es war einmal ein König, der nach alter Sitte einen Hofnarren beschäftigte. Dieser Narr war nicht nur dazu da, den König mit seinen Späßen zu unterhalten, sondern hatte das seltene Privileg, die Wahrheit zu sagen – selbst wenn sie bitter war. Doch die Wahrheit aus dem Mund eines Narren wurde nicht als Beleidigung aufgefasst. Wenn sie zu sehr schmerzte, sagte man schlicht: „Er ist halt ein Narr.“

Eines Tages, in einem Moment ungewöhnlicher Laune, überreichte der König dem Narren einen goldenen Stab, an dessen Ende Glöckchen klingelten. „Nimm diesen Stab“, sprach der König, „denn du bist gewiss der größte Narr, den es gibt. Solltest du jedoch jemals jemanden treffen, der närrischer ist als du, so übergib ihm diesen Stab.“

Der Narr nahm den Stab an, ohne zu zögern, und trug ihn von diesem Tag an bei sich. Jahre vergingen, und die Glöckchen des Stabes kündigten den Narren überall an. Doch er fand niemanden, der ihn an Narrheit übertraf.

Eines Tages aber kam die Nachricht, dass der König im Sterben lag. Der Narr, neugierig wie immer, sprang in das Krankenzimmer und rief: „Majestät, ich höre, Ihr wollt eine große Reise antreten.“

„Ich will nicht“, antwortete der König matt, „aber ich muss.“

Der Narr hob eine Augenbraue. „Oh, Ihr müsst? Gibt es etwa eine Macht, die noch über Euch steht? Nun, dann werdet Ihr sicher bald zurückkommen?“

„Nein“, stöhnte der König, „von der Reise, die ich antrete, kehrt man nicht zurück.“

„Dann habt Ihr diese Reise gewiss lange vorbereitet“, mutmaßte der Narr. „Ihr habt sicher alles geregelt, um in jenem Land königlich aufgenommen zu werden.“

Der König schüttelte müde den Kopf. „Das habe ich versäumt. Ich hatte nie Zeit, mich darauf vorzubereiten.“

„Ihr wusstet also, dass diese Reise bevorsteht?“, hakte der Narr nach.

„Natürlich“, erwiderte der König. „Aber ich war zu beschäftigt.“

Da legte der Narr den goldenen Stab sanft auf das Bett des Königs und sprach: „Majestät, Ihr habt mir aufgetragen, diesen Stab dem größten Narren zu überreichen. Ich glaube, der Stab gehört nun Euch. Ihr wusstet, dass Ihr diese Reise antreten müsst, habt Euch aber nicht darauf vorbereitet. Majestät, Ihr seid der größte Narr.“

Der König, nun von tiefer Erkenntnis ergriffen, blickte auf den Stab in seiner Hand. Sein Leben, das er in Macht und Reichtum verbracht hatte, schien plötzlich leer und unvorbereitet auf das Kommende.

 

 

Ein Hirte kommt zu Hofe

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